Erweiterung des Frameworks zur Erklärung des Fachkräftemangels im IT-Bereich
Immer wieder ist zu hören, dass der Fachkräftemangel vor allem auf die Zahlungsunwilligkeit der Unternehmen zurückzuführen sei. Das ist sicherlich ein kaum zu unterschätzender Punkt, allerdings ist er auch eindimensional und wird damit der in der Realität etwas komplexeren Gemengelage nicht vollständig gerecht.
Die Attraktivität einer Stelle korreliert stark mit der Anzahl der Bewerber. Wenn eine Stelle nicht genug passende Bewerber findet, stimmt die Attraktivität also nicht. Das Gehalt ist ein Aspekt dieser Attraktivität, aber es ist nur ein Aspekt unter mehreren. Die Gesamtattraktivität einer Stelle setzt sich wie folgt zusammen:
Die Einzelnen Faktoren unterliegen noch einer individuellen Gewichtung, die persönliche Präferenzen und Prioritäten widerspiegelt. Für den einen mag das Gehalt das Wichtigste und die anderen Faktoren völlig vernachlässigbar sein. Berufseinsteiger suchen womöglich eher spannende Aufgaben, die einen guten Karriereverlauf mit insgesamt attraktiven Jobs zu einem späteren Zeitpunkt versprechen und voll im Leben stehende Seniors mit geringen Aussichten auf weiteres Karrierewachstum legen in der Tendenz einen größeren Fokus auf gute Arbeitsbedingungen - wenig Stress durch Zeitdruck, mehr Freizeit, Kinderkrankentage, wertschätzende Unternehmenskultur.
Als Unternehmen ist die Attraktivität der Aufgaben kaum veränderlich, weil die Erfüllung der Aufgaben ja einem Unternehmenszweck dienen soll und daher einen erwartbaren Mehrwert bringen, der sich im Maximal-Budget der Stelle niederschlagen solte. Die Bezahlung dagegen an der marktüblichen Höhe festzumachen, ist in sich schon ein Fehlschluss. Der Markt kann einen Orientierungspunkt liefern, aber der Mehrwert im Unternehmen gibt den Ausschlag für das maximal mögliche Gehalt. Liegt der Mehrwert einer Stelle unter ihrem Marktwert und kann das Unternehmen demnach mit der Attraktivität des Gehalts nicht punkten, dann muss die Attraktivität anderweitig gesteigert werden. Da die Aufgaben wie gesagt ein Fixpunkt sind, bleibt also nur die Anpassung der Arbeitsbedingungen als Stellschraube, um eine Stelle in angemessenem Zeitrahmen zu besetzen.
Die Arbeitsbedingungen haben zahlreiche beeinflussbare Faktoren: Kultur, Arbeitszeit, Urlaubsanspruch, Home-Office-Regelungen, Standort, Weiterbildungen, etc. Der obligatorische Obstkorb, der zum Sinnbild für unternehmensseitige Rat- und Kompromisslosigkeit geworden ist, zählt natürlich auch dazu, ist aber wegen seines geringen Mehrwerts für Arbeitnehmer, i.d.R. nicht der Rede wert. Entscheidend für eine zielführende Attraktivitätssteigerung ist der Status Quo von AttraktivitätArbeitsbedingungen und worauf diese Attraktvittät beruht.
Als Beispiel sei ein Phänomen genannt, das auffällig häufig aufzutreten scheint: besonders unattraktive Unternehmen bieten nicht selten besonders unattraktive Arbeitsbedinungen. Wenn das Unternehmen einen unattraktiven, weil ländlichen Standort hat, kann es die Attraktivität einer Stelle drastisch erhöhen und gleichzeitg den Bewerberpool um Multituden vergrößern, indem es schlicht Full-Remote anbietet. Ländlich gelegene Unternehmen müssen heute ceteris paribus mehr Attraktivität bieten, als ihre Gegenstücke im urbanen Raum. Sprich, bei gleichbleibenden Arbeitsbedingungen und Aufgaben, müssen sie heute auch mehr bezahlen, als ein vergleichbare Unternehmen in der Millionenstadt.
Muss eine Stelle besetzt werden, für die einfach wenig Budget zur Verfügung steht und die dann auch noch mit relativ unattraktiven Aufgaben aufwartet, dann kann die Reduktion der Ansprüche an die Arbeitszeit ein adäquater Weg sein, um fähige Bewerber anzuziehen und zum Einstieg zu bewegen. 35h Arbeitskraft erhalten und ein Vollzeitgehalt bezahlen, kann besser sein, als Aufgaben liegen zu lassen und ein Vollzeitgehalt nicht zu investieren. Die Budgetrestriktion wird eingehalten und der Unternehmenserfolg ist nicht gefährdet. Häufig ist das einzige, was dagegen spricht, die irrationale Maxime, Stundenlöhne (!) zu minimieren.
Ich habe versucht, hier aufzuzeigen, dass der Fokus auf die reine Höhe des Brutto-Entgelts der Situation am Arbeitsmarkt nicht gerecht wird. Effektive Stellschrauben auch außerhalb des reinen Gehalts werden von Unternehmensseite immer noch nicht in einem ansatzweise ausreichenden Ausmaß bemüht. Daher ist auch, anders als es immer wieder behauptet wird, nicht eine rein monetäre Geizigkeit der Unternehmen verantwortlich für die Schwierigkeiten bei der Stellenbesetzung. Stattdessen ist ein Mangel an Bewerbern auf eine generelle Uneinsichtigkeit bzw. ein Unwissen der Unternehmen bezüglich der Möglichkeiten der Anpassung über die verschiedenen Dimensionen, anhand derer Arbeitnehmer die Attraktivität einer Stelle bewerten, hinweg als ursächlich anzusehen.
tl;dr: Unternehmen finden nicht ausschließlich deswegen keine Mitarbeiter, weil sie nicht genug Geld zahlen wollen, sondern weil sie isngesamt zu uneinsichtig und daher nicht bereit sind, an anderen Stellen Zugeständnisse zu machen, mit denen sie geringe Gehälter ausgleichen können. Wer in Buttfuck-Nowhere seinen Unternehmenssitz hat, kann es sich nicht leisten, 3 Tage Präsenzarbeit zu verlangen.
Wenn es überall gleich beschissen ist, dann bleibt nur das Geld als Leiterkmal. Zumal viele Branchen nach wie vor von Ausbeutern als Chefs durchsetzt sind.
Trotz der vielen Mittel wie kununu und google-bewertungen lassen sich die Zustände am Arbeitsplatz und vorallem in der Abteilung und am Standort bei großen Unternehmen nicht einfach von außen beurteilen. Da muss ich immer vom schlimmsten ausgehen und das Minimum (das heißt gesetzlich und vertraglich) als Arbeitsbedingungen annehmen. Und es gibt aus eigener Erfahrung und verschieden Beiträgen Belege, dass selbst die gesetzlichen und vertraglichen Mindestanforderungen unterschritten werden, also: Das Geld ist neben den vertraglichen Konditionen das einzige, worauf ich mich verlassen kann und sollte, um später nicht von einem beschissenen Arbeitsplatz enttäuscht zu sein und Jahre meines Lebens verschwende.
Die Inflation kann ich mit spannenden Aufgaben und Spaß bei der Arbeit nicht ausgleichen. Auch nicht mit Home-Office. Ich persönlich lasse mich für gutes Geld gern abwerben, auch wenn ein Job langweilig ist. Wenn allerdings alles schlecht ist, dann hilft weder Obstkorb moch Home Office.
Ich sag ja: das hängt von der individuellen Persönlichkeit und der individuellen Situation ab. Für mich ist das Gehalt fast egal. Arbeitsbedingungen sind für mich derzeit viel wichtiger (gibt es Seniors, die auch Bock haben, mir was beizubringen), aber am Wichtigsten sind für mich als Junior die Aufgaben. Ein Job mit Premium-Gehalt fliegt mir nach einem Jahr Arbeit mit Premium-Techstack einfach zu.
Das Premium-Gehalt wäre dir ja egal, weil dir ja Geld fast egal ist, sagst du....
Es gibt einfach gewisse gesellschaftliche Hürden, die jeder mit seiner Arbeit zu überwinden sucht. Und einen gewissen Lebensstandard kannst du eben nur mit Geld erreichen. Du bist Berufsanfänger? Ich nicht. Und die meisten Menschen, die ich in den Firmen kennengelernt habe, wo ich war, werten Geld viel wichtiger als die anderen Aspekte. Und wenn sie genügend verdienen, dass das Gehalt weniger wichtig wird, reduzieren viele ihre Stunden. Ein Aspekt, der eh nicht in der Macht der Arbeitgeber liegt, weil das bundesweit gesetzlich geregelt ist.
Es gibt auch Beispiele von Bäckern, die ihren Azubis ein tatsächlich gutes Gehalt anbieten und huch: plötzlich kommen Bewerbungen rein.
Geld ist bei weitem der wichtigste Aspekt für die Masse der Arbeitnehmer mMn. Auch wenn dir das als Berufsanfänger individuell nicht so geht.
Puh. Da fallen mir ein paar Dinge ein. Nach einem Jahr bist Du noch kein Professional. Du kannst Dir sicherlich viel beibringen, aber die Erfahrungen kommen erst mit der Zeit. Und ja, auch unangenehme Aufgaben gehören dazu - nicht immer und nicht permanent, aber mir ist bisher kein Job über den Weg gelaufen, wo es immer nur interessante Aufgaben zu bewerkstelligen gab. Ich bezweifle auch, dass Dir nach einem Jahr ein "Premium Gehalt" zufliegt, selbst wenn es ein Premium-Techstack (was soll das überhaupt sein? Kubernetes? LLMs? Data Science?) in der Zeit eingesetzt hat.
Bei uns würdest Du mit einem Jahr Berufserfahrung kein Premium Gehalt, im Sinne von weit über anderen Kolleginnen, bekommen. Da wir transparente Gehälter haben wäre das auch allen anderen nicht vermittelbar.
Ich lese auch heraus, dass Du relativ schnell wieder kündigen willst, wenn Du erstmal was gelernt hast. Ist ok, da eine Firma eine Firma eine Firma ist, finde das aber bei einem Arbeitgeber, der sich um seine Leute kümmert, nur so mässig in Ordnung.