Die Pseudo-Kritik an Björn Höckes Aussagen gegen inklusive Schulen zeigt erneut, warum wir eine realistische Berichterstattung über Behindertenpolitik brauchen.
Vor 10 Jahren habe ich ein gutes Abitur gemacht, in einem Abiturfach sogar mit Auszeichnung. Ich habe danach einen Bachelorabschluss gemacht und absolviere derzeit ein internationales Masterstudium an einer angesehenen staatlichen Universität in Italien.
Klingt wie eine Erfolgsgeschichte einer behinderten Person in Deutschland. Ist es auch.
Aber diese Erfolgsgeschichte liegt nicht am inklusiven Bildungssystem, sondern vor allem an Eigeninitiative.
Bei meiner Einschulung fragte der Rektor meine Eltern, wo das Kind sei, das sie einschulen wollten. Er hielt mich als Kleinwüchsige für die kleine Schwester. In der dritten Klasse gab es eine Schulkonferenz, in der beschlossen werden sollte, mich in eine Schule für Körperbehinderte zu schicken. Da ich das Klassenzimmer im ersten Stock nicht erreichen konnte und kein Aufzug da war, wollte man mich also von der Schule werfen. In der 9. Klasse am Gymnasium weigerte sich mein Lateinlehrer, mich zu einer Schnuppervorlesung an die Universität mitzunehmen. (Übrigens an die Uni, an der ich später studiert habe.) Aufgrund von Barrieren und ableistischen Mobbings durch Mitschüler*innen und einige Lehrkräfte, musste ich in die Nachbarstadt ziehen und die Schule wechseln. Bei meiner Abschlussfahrt nach Rom, die ich nur in Begleitung meiner Eltern machen durfte, wollten mich die Lehrkräfte dann trotzdem im Hotel sitzen lassen.
Warum ich das so ausführlich erzähle? Weil meine Bildungsgeschichte, die von so vielen Hürden geprägt ist, kein Einzelfall ist. So geht es vielen behinderten Menschen. Inklusion an deutschen Schulen ist eine Illusion.
Umso mehr verwunderten mich die öffentlichen Reaktionen – sei es von Politikerinnen oder Journalistinnen – auf die Forderungen von Björn Höcke. Im MDR-„Sommerinterview“ sagte der Thüringer AfD-Chef im August, dass das deutsche Schulsystem vom „Ideologie-Projekt inklusive Bildung“ zu befreien sei. Zahlreiche Medien griffen das empört auf.
Erstens suggerierten viele Meldungen, dass Inklusion in deutschen Schulen längst Alltag sei – und die AfD wolle das ändern. Zweitens war das, was Höcke da sagte, gar nicht neu. Seit Jahren ist bekannt, dass das Parteiprogramm der AfD zutiefst ableistisch ist. Schon während der bayerischen Landtagswahl 2018 prangte der Anti-Inklusions-Slogan auf einem AfD-Wahlplakat, direkt vor meiner Haustüre. Öffentlichen Protest gab es daraufhin aber keinen. Und schon 2016 schrieb die AfD in ihrer Vorlage zum Bundesparteitag:
„Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen stellt unsere bewährten Förder- und Sonderschulen keineswegs in Frage. Die Forderung, behinderten Kindern Teilhabe am Bildungssystem zu garantieren, ist bereits umfassend und erfolgreich erfüllt. Die ideologisch motivierte Inklusion ‚um jeden Preis‘ verursacht erhebliche Kosten und behindert Schüler in ihrem Lernerfolg.“
Kein Leitmedium schaffte es, das nach dem Höcke-Interview im MDR einzuordnen. Einzig die taz stellte als Reaktion auf Höckes Forderung die Realität für behinderte Schüler*innen dar: Inklusive Bildung gibt es in Deutschland nicht – solange es Sonderschulen gibt, die die Exklusion behinderter Kinder ja bereits im Namen tragen.
Mir als Journalistin mit Behinderung, die sich auf die Repräsentation behinderter Menschen spezialisiert hat, sind Debatten über die Gefahr für behinderte Menschen durch die AfD längst bekannt. Mainstream-Medien, die das gesellschaftliche und politische Geschehen in Deutschland ausschließlich durch nichtbehinderte Journalist*innen einordnen lassen, nehmen das aber höchstens wahr, wenn Höcke seine ableistische Position im MDR-„Sommerinterview“ vom Stapel lässt.
Und da wären wir dann wieder bei den Schulen, in denen Höcke behinderte und nichtbehinderte Kinder getrennt sehen will: Seit meiner Tätigkeit als Lehrbeauftragte für Medienpädagogik zu Behinderung beobachte ich, wie wenig Lehramtsstudierende über die Lebenswelten behinderter Menschen wissen. Sie haben große Berührungsängste und erfahren während ihres Studiums wenig über inklusives Unterrichten. Sie diskutieren gar, ob das überhaupt möglich sei. Das liegt aus meiner Sicht auch daran, dass sie in Medien so gut wie nichts über behinderte Menschen und Behindertenpolitik erfahren.
[...] wie wenig Lehramtsstudierende über die Lebenswelten behinderter Menschen wissen.
Lehramtsstudent hier.
Ich würde mich freuen wenn wirklich einmal irgendwas Praxis bezogenes in meinem Studium auftaucht. Bisher hatten wir nur trockenste Theorie - und das im 6. Semester. Bei Physik und Informatik versteh ich das ja noch habwegs - man braucht ja ein gewisses Verständnis vom Stoff - aber selbst die Kurse im Bereich Erziehugswissenschaften triefen von Theorie. Klar da gibts noch die paar Praktika, aber so richtig bereiten, die einen auch nicht auf Unterricht vor.
Meiner Meinung nach müsste man das ganze Lehramtsstudium von Grund auf neu gestalten mit viel viel mehr Praxis. Vielleicht sogar Lehrer zum Ausbildungsberuf machen.
Immernoch erschreckend wie die AFD vielen Medien nur das Stöckchen hinhalten muss um sofort Aufmerksamkeit zu bekommen.
Das Ende des Artikels macht noch mal nachdenklich:
Warum die Berichterstattung über Behindertenpolitik auch Nichtbehinderte beschäftigen sollte
Behinderte Menschen stellen weltweit die größte marginalisierte Gruppe dar, aber sie finden am wenigsten Beachtung. Auch aus Eigeninteresse sollten sich Nichtbehinderte für deren Lebenswelten interessieren. Denn nur vier Prozent aller Behinderungen sind angeboren sind, die meisten Menschen bekommen erst im Laufe ihres Lebens eine Behinderungen. Es kann also jede*n treffen.